*Björn Freter ist zusammen mit mir Mitgründer der Emilia AG. Er ist VR und Geschäftsführer. Wir haben vieles gemeinsam aufgebaut, auch Dextra, und sind seither ein unschlagbares Team, in guten wie in schwierigen Zeiten.
Habe ich Ihre Aufmerksamkeit? Sehr gut, denn als Gastreferent in Peters Blog möchte ich über ein Thema berichten, welches unglaublich wichtig für die gesamte Gesellschaft ist.
Fast schon religiös huldigt die Versicherungsbranche sich selber für ihre Transformation in eine digitale Zukunft. Die Quintessenz: Nicht nur näher an Kunden, sondern ganz nah – durch Digitalisierung, neue Online-Services und vielem mehr. Und wenn man sich bei den grossen Versicherern so umschaut, kann man auf den ersten Blick durchaus beeindruckt sein.
Aber nur bis man ins Detail geht. Denn leider haben viele Versicherer nicht nur ihre Selbstbeweihräucherung gemein, sondern über alle Sparten hinweg auch ihre Barrieredichte. Wir haben einen definitiven Missstand an Accessibility in der Online-Versicherungsbranche und weit darüber hinaus. Soll heissen: Umständliche Navigation, komplexe Seitenstrukturen und kaum Semantik von Elementen. Dabei gibt es etablierte Standards für barrierefreie Plattformen – die konsequente Nichteinhaltung der „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG) und A11Y-Richtwerte helfen dabei genauso wenig wie Versicherungsbedingungen, die im Schnitt 3’487 komplizierte Wörter lang sind (das sind übrigens ca. 36 Mal so viel wie diese ersten beiden Absätze, die Sie grad gelesen haben).
Die Verbraucher:innen werden dabei vor substanzielle Herausforderungen gestellt. Versicherer scheinen zu vergessen, dass nicht alle Menschen einen hohen Bildungsgrad und Einkommen haben und sich stressfrei und intuitiv durch die komplexe Versicherungslandschaft bewegen können. In der Realität hingegen verdienen durchschnittliche Schweizer:innen CHF 6,538 im Monat, 65.3 Prozent haben maximal ein mittleres Bildungsniveau und 16.5 Prozent der Bevölkerung hat eine Beeinträchtigung im Leseverständnis. Das sind die Durchschnittsschweizer:innen. Die sich auch so – trotz Brokern und Vergleichsportalen – kaum zurechtfinden im Versicherungsdschungel. Und diese Herausforderungen steigern sich noch um ein Vielfaches, wenn bei Konsumenten Beeinträchtigungen wie eine Sehschwäche oder Leseschwäche hinzukommen.
Mit anderen Worten: Die durchschnittlichen Verbraucher:innen treffen bereits auf grosse Hürden, für Konsument:innen mit Behinderung sind es oft unüberwindbare Barrieren.
Die Branche fokussiert sich auf Gutverdiener:innen, die angeblich schon wissen sollten, was sie tun. Aber viele Bevölkerungsgruppen sind gezwungen, essenzielle Versicherungslösungen zu kaufen, die nicht für sie oder ihren Geldbeutel hergestellt worden sind.
Das muss sich ändern. Und das kann man auch ändern, wenn man es denn will. Was es dazu braucht? Kurzum: Konsequent “einfache Sprache” in jeglicher Kommunikation – von Produktinformationen bis hin zu Formularen und Versicherungsbedingungen. Einfach gesagt, das richtige Kundenerlebnis für jeden und dazu Technologien und Prozesse, die dieses unterstützen.
Bei Emilia wollten wir all unsere Schnittstellen zu potentiellen Kund:innen von Anfang an möglichst einfach verständlich gestalten (und unsere Versicherungsbedingungen sind übrigens nur ca. 350 Wörter lang). Unsere technische Plattform und Website entwickeln wir daher mit unserem Technologiepartner Whiskey Tango Foxtrot möglichst barrierefrei. Franzi, eine leitende Software-Entwicklerin in unserem Projekt, bringt unsere Vision treffend auf den Punkt: “Es ist wichtig, sich von dem Gedanken zu trennen, dass Barrierefreiheit nur für bestimmte Personengruppen nützlich ist. Ein Produkt oder eine Dienstleistung ohne Hürden anzubieten, erleichtert allen Nutzer:innen die Handhabung einer Website und optimiert das Erlebnis ungemein. Barrierefreiheit hilft uns allen, denn viele ‘Behinderungen’ sind oft nur temporär und situativ: die Sonne blendet auf dem Display – nur durch einen hohen Kontrast erkenne ich die Inhalte und Bedienelemente. Oder: in einem Arm das Kind, der andere Arm bedient das Smartphone – eine Bedienung mit einer Hand muss gewährleistet sein.
Dabei werden Design und technische Entwicklung eng verzahnt, um Barrierefreiheit konsequent umzusetzen. Bei Emilia setzen wir auf kontrastreiche Farbkombinationen und eine klare Farbzuordnung, damit intuitiv zwischen Interaktions- und Hinweis-Elementen unterschieden werden kann. Wir bieten unseren Kund:innen sehr flache Navigationsstrukturen und Seitenhirarchien. Das Design und Layout ist bewusst weniger verspielt und komplex und bietet den Nutzer:innen durch viel Weissraum bessere Orientierung. Für Online-Formulare gelten selbstverständlich die gleichen Kriterien wie für die rein informative Seiten – sie werden durch Eingabehilfen zusätzlich kundenfreundlicher. Technisch wird das barrierearme Design mit validem, semantischem und standardkonformen Quellcode mit zusätzlichen ARIA Attributen umgesetzt. Zudem überprüfen wir bei jeder Erneuerung, ob wir die jeweils aktuellen Empfehlungen und Richtlinien für Barrierefreiheit einhalten. Darüber hinaus funktionieren die Seiten ohne Abhängigkeit zum Endgerät und bieten bei jeder Bildschirmart und jedem Screenreader eine intuitive Nutzung. Was genau aber “intuitiv” wirkt, kann für Menschen mit Einschränkungen stets unterschiedlich sein und muss daher die jeweilige Erwartungshaltung decken. Aufgrund dessen verzichten wir auf unnötige Spielereien und setzen auf ein funktionales Design.
Und was oft vergessen wird: Unter dem Strich besteht Einfachheit nicht nur aus technischer und visueller Umsetzung sowie verständlichem Sprachgebrauch, sondern vor allem aus einfachen Prozessen. Bei Emilia investieren wir daher sehr viel Zeit in die Gestaltung von Geschäftsvorgängen, die in erster Linie für unsere Kund:innen verständlich sein sollen. Und um Inkohärenz durch Betriebsblindheit zu vermeiden, binden wir schon vor dem offiziellen Markteintritt im Oktober 2022 unsere zukünftigen Kund:innen regelmässig zum Testen mit ein.
Luigi, Leiter des Design-Bereichs bei unserem Partner Whiskey Tango Foxtrot, drückt das aktuelle Dilemma der Versicherer abschliessend treffend aus: “Eigentlich sollte Barrierefreiheit im Internet längst als Standard gesetzt sein – also etwas völlig Normales bzw. Selbstverständliches. Aber das ist es leider noch lange nicht, denn das Bewusstsein dafür ist nicht da oder die Umsetzung erfolgt meist nur inkonsequent. Der Mehrwert für Unternehmen, speziell für solche, die Produkte oder Dienstleistungen verkaufen, liegt auf der Hand. In naher Zukunft wird sich zeigen, welche Unternehmen hier den Führungsanspruch für sich behaupten wollen und dadurch zwangsläufig andere Unternehmen zum Handeln zwingen werden.”